Germanisch-romanischer Sprachkontakt in den italienischen Alpen: dokumentieren, erklären, kooperieren
Das Projekt AlpiLinK (Alpine Sprachen im Kontakt), durchgeführt in Zusammenarbeit zwischen den Universitäten Verona, Trient, Bozen, Turin und Aosta, hat zum Ziel, die germanisch-deutschen, romanischen und slawischen Dialekte und Minderheitensprachen der alpinen Regionen Italiens zu erforschen und in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Geographisch umfasst das Projekt die Regionen Piemont, Aostatal, Lombardei, Venetien, Trentino-Südtirol und Friaul-Julisch Venetien. Das Projekt wird vom italienischen Forschungsministerium als ‚Projekt von relevantem nationalen Interesse’ (Progetto di ricerca di rilevante interesse nazionale, PRIN) finanziert (Ausschreibung 2020, Projektnummer 2020SYSYBS).
AlpiLinK ist eine Weiterführung und Erweiterung des von den Universitäten Verona, Trient und Bozen verantworteten Projekts VinKo (Varietäten im Kontakt), und aus diesem Projekt ist auch die Logik der digitalen Infrastruktur übernommen. Detaillierte Informationen finden sich in der VinKo-Projektbeschreibung und in Kruijt, Rabanus & Tagliani (2023).
AlpiLinK folgt generell einer „Open Science Policy“ , die unter anderem die FAIR-Prinzipien für das Datenmanagement beeinhaltet, so etwa das Sicherstellen der dauerhaften Erreichbarkeit von Inhalten oder die einfache Wiederverwendbarkeit der Daten dank offener Lizenzen. Alle in AlpiLinK gesammelten Daten sind im AlpiLinK-Korpus (Rabanus et al. 2023) auf Zenodo zu finden.
Dokumentieren
Crowdsourcing von Sprachdaten
AlpiLinK zielt darauf ab, Daten zu Dialekten und Minderheitensprachen aus den alpinen Regionen Italiens zu dokumentieren, die sprachgruppenübergreifend vergleichbar sind, also zwischen deutschen, romanischen und slawischen Varietäten. Die Datensammlung erfolgt mithilfe von Crowdsourcing über diese Webseite (zum Mitmachen gehen Sie bitte zur „Teilnehmen“ -Sektion). Alle Sprecher einer der untersuchten Sprachvarietäten, z.B. Walserdeutsch oder Tiroler Dialekt (die Gesamtliste ist unter „Unsere Varietäten“ zu finden), können sich auf der Plattform anmelden und an der Untersuchung teilnehmen, indem sie Audiodateien ihrer Lösungen verschiedener linguistischer Aufgaben aufzeichnen (Übersetzungen, Bildbschreibungen etc.).
Die gesammelten Audiodateien werden über die interaktive Karte in der Sektion „Anhören & Entdecken“ frei zugänglich gemacht (derzeit sind über diese Karte Daten aus dem vorhergehenden VinKo-Projekt aufrufbar), die von jedem konsultiert werden kann, der die Audiodateien anhören und mehr über die mehrsprachige Situation des Untersuchungsgebiets erfahren will. Die Daten stehen sowohl der Wissenschaft als auch den Mitgliedern der beteiligten Sprachgemeinschaften zusätzlich in einer offenen Datenbank auf Zenodo zur Verfügung (Rabanus et al. 2023), die regelmäßig aktualisiert wird.
Erklären
Warum klingt mein /s/ anders als deins?
AlpiLinK untersucht eine Reihe von sprachlichen Merkmalen durch die vergleichende Analyse der per Crowdsourcing gesammelten Daten. Die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Merkmalen einer Sprache kann Einsichten auch in die Geschichte, Kultur und Sozialstruktur von Orten ermöglichen. Zur Erläuterung dessen soll hier ein Blick auf die Art und Weise geworfen werden, in der die Bevölkerung der Regionen Trentino-Südtirol und Venetien den Buchstaben <s> ausspricht. In den Tiroler Dialekten hängt die Aussprache des <s> davon ab, wo es im Wort steht und welcher Laut ihm folgt. Wenn <s> beispielsweise am Wortanfang vor <p, t, k, m, n, l, w> steht, wird es wie <sch> ausgesprochen ([ʃ] im International Phonetischen Alphabet). In der Wortmitte vor <m> oder <n> wird es dagegen als „normales“ <s> realisiert. Im Folgenden können Sie die Unterschiede selbst hören, wenn Sie die Wörter speziell und Rosmarin vergleichen.
Speziell (Tiroler Dialekt)
Rosmarin (Tiroler Dialekt)
Der Unterschied wird in der Wissenschaft als s-Retraktion bezeichnet. Das Phänomen ist in deutschen Varietäten weit verbreitet, im Gegensatz zu romanischen Varietäten wie den Trentiner oder den venetischen Dialekten. Allerdings bildet das Ladinische, das zur (Rhäto-)Romanischen Sprachfamilie gehört, eine Ausnahme. Zum Beispiel herrscht im Ladinischen des Grödnertals eine den Tiroler Dialekten sehr ähnliche Verteilung der Laute: <s> wird am Wortanfang vor <p, t, k, m, n, l, f, v> als <sch> wie in ‘Fisch’, d.h. [ʃ] ausgesprochen, in der Wortmitte vor <m> allerdings als „normales“ <s>. Hören Sie sich im Folgenden spiedl ‚Spiegel‘ und rosmarin an.
Spiedl ‚Spiegel‘ (Grödnerisch)
Rosmarin (Grödnerisch)
Der Unterschied zwischen dem Ladinischen und den anderen romanischen Varietäten ist wahrscheinlich das Ergebnis einer Mischung von sprachinternem Wandel und Sprachkontakt. Seit vielen Jahrhunderten interagieren Sprecher des Ladinischen mit Sprechern des Deutschen, und häufig sprechen sie selbst neben Ladinisch auch Deutsch, wodurch sie mit den anderen (deutschen) s-Realisierungen und den entsprechenden Verteilungsregeln konfrontiert sind. Der historische Kontakt mit Sprechern anderer Sprachen ist allerdings kein hinreichender Grund für Sprachwandel, auch sprachinterne Verhältnisse spielen eine Rolle. Denn schließlich haben viele romanische Sprechergemeinschaften im Trentino eine ähnlich lange Kontaktsituation mit dem Deutschen, trotzdem gibt es in Trentiner Dialekten nur eine Ausspracheform von <s>. Das liegt an strukturellen Unterschieden zwischen Ladinisch und den venetisch-lombardischen Dialekten im Trentino. Historisch ist im Ladinischen ein Kontrast zwischen [ʃ] und [ś] (einem Laut, der halbwegs zwischen [ʃ] und [s] ist) entstanden. Im Laufe der Zeit veränderte sich dann die [ś]-Aussprache. Der alte Laut ist je nach Kontext entweder retrahiert und mit [ʃ] verschmolzen oder nach vorne zum “normalen” [s] verschoben worden, was zur oben illustrierten Alternation von [s] und [ʃ] im Ladinischen geführt hat. In den Dialekten des Trentino gab es dagegen historisch nur [ś] und kein [ʃ]. Es fehlten also die Voraussetzungen für die Retraktion von [ś] zu [ʃ]. In dieser Art ist die Verteilung des Aussprachevarianten von <s> im Ladinischen das Ergebnis eines sprachinternen Prozesses, der durch den intensiven Sprachkontakt mit den deutschen Varietäten unterstützt wurde (vgl. Alber, Kokkelmans & Rabanus 2021).
Kooperieren
Beteiligung der Sprachgemeinschaften
Die aktive Beteiligung der Sprachgemeinschaften am Projekt dient über die Datensammlung per Crowdsourcing hinaus der Förderung von Citizen Science („Bürgerwissenschaft“) und damit der Vermittlung der Bedeutung wissenschaftlicher Forschung für die Bewahrung und Aufwertung des immateriellen Kulturerbes. Die Hauptsäule des Public Engagement-Aspekts von AlpiLinK ist das Teilprojekt VinKiamo. VinKiamo ist ein Angebot für Schülerinnen und Schüler der Oberschulen, durch die Unterstützung verschiedener, vor allem älterer Sprechergenerationen bei Bearbeitung des Fragebogens auf der AlpiLinK-Webseite aktiv zur Datensammlung beizutragen. Auf diese Art födert VinKiamo den intergenerationellen Dialog zwischen den jüngeren Generationen mit ihren ausgebildeten digitalen Kompetenzen und den älteren Generationen mit ihrem reichen kulturellen und sprachlichen Wissen. Dieser Dialog dient dient der Bewahrung von lokalen Sprachtraditionen und Mehrsprachigkeit als Teil eines mündlich tradierten Kulturerbes, das ohne Sammlung und Dokumentation verlorenzugehen droht.
Kruijt, Anne, Stefan Rabanus & Marta Tagliani (2023). The VinKo-Corpus: Oral data from Romance and Germanic local varieties of Northern Italy. In Marc Kupietz & Thomas Schmidt (Hrsg.): Neue Entwicklungen in der Korpuslandschaft der Germanistik: Beiträge zur IDS-Methodenmesse 2022. (= Korpuslinguistik und interdisziplinäre Perspektiven auf Sprache (CLIP) 11). Tübingen: Narr, 203-212.
Rabanus, Stefan, Anne Kruijt, Birgit Alber, Ermenegildo Bidese, Livio Gaeta, & Gianmario Raimondi (2023). AlpiLinK Corpus 1.0.0. In Zusammenarbeit mit Paolo Benedetto Mas, Sabrina Bertollo, Jan Casalicchio, Raffaele Cioffi, Patrizia Cordin, Michele Cosentino, Silvia Dal Negro, Alexander Glück, Joachim Kokkelmans, Adriano Murelli, Andrea Padovan, Aline Pons, Matteo Rivoira, Marta Tagliani, Caterina Saracco, Emily Siviero, Alessandra Tomaselli, Ruth Videsott, Alessandro Vietti & Barbara Vogt. DOI:10.5281/zenodo.8360170.