Rufname und expletiver Artikel in den Dialekten von Trentino-Südtirol und Venetien

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In den baierischen und venetischen Dialekten sind ie Rufnamen häufig von einem bestimmten Artikel, begleitet (siehe die Beispiele [1a], die Maria, und [2a], la Maria), im Unterschied zu den entsprechenden Standardsprachen (siehe [1b], [2b], Maria).

(1) a. In dem Saal isch die Maria die schianschte

(Fiè allo Sciliar [BZ]; Rabanus et al. 2023: S0015_tir_U0372)

b. In diesem Saal ist Maria die schönste

(2) a. In questo locale la Maria l’è la più bella

(Grezzana [VR]; Rabanus et al. 2023: S0015_vec_U0556)

b. In questa stanza Maria è la più bella

 

Die Rufnamen haben, wie andere Eigennamen, zwei wichtige Merkmale, die sie von den Appellativen unterscheiden (siehe Nübling et al. 2012): „Monoreferenz“, d.h. der Name identifiziert im relevanten Kontext genau eine spezifische Person, und „Direktreferenz“: Die Referenz ist direkt in dem Sinn, dass die phonologischen oder graphischen Substanz direkt auf die Referenzperson verweist, ohne dabei auf eine Bedeutung Bezug zu nehmen. Für die Forschungsfragen des vorliegenden Beitrags ist die „Monoreferenz“ entscheidend, weil dadurch Definitheit Rufnamen inhärent ist. Aus diesem Grund werden die Rufnamen in der deutschen und italienischen Standardsprache in der Regeln ohne Artikel verwendet (siehe [1b] und [2b]). Die Verwendung des bestimmten Artikels ist in den Standardsprachen nicht ausgeschlossen, aber sehr beschränkt. Vor allem: Wenn der bestimmte Artikel mit Rufnamen verwendet wird, drückt er nicht Definitheit aus, sondern hat andere Funktionen. Entsprechend nennen wir den Artikel vor dem Rufnamen „expletiven Artikel“.

Die Beispiel (1a) und (2a) sind dem VinKo-Korpus entnommen (Rabanus et al. 2023). Im Projekt VinKo (‘Varietäten in Kontakt‘) sind per Crowdsourcing die Varianten derselben linguistischen Variablen für alle Dialekte und Minderheitensprachen der italienischen Regionen Trentino-Südtirol und Venetien erhoben worden, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur germanischen oder romanischen Sprachgruppe. Für die vorliegende Studie zu Rufname und expetivem Artikel sind die Dialektübersetzung der 28 Sätze des Fragebogens ausgewertet worden, in denen sich Rufnamen befinden. Am 31. Dezember 2021, dem Stichtag für die vorliegenden Studie, hatten Informanten aus 229 Orten insgesamt 4735 Sätze mit Rufnamen produziert: 698 für die Tiroler Dialekte, 104 für die historisch deutschen Minderheitensprachen Fersentalerisch, Zimbrisch und Zahrerisch, 226 für die ladinischen Varietäten, 676 für die trentinisch-lombardischen und trentinisch-venetischen Dialekte (im Trentino) und 3031 für die venetischen Dialekte (in Venetien).

Sexus oder Gender der Referenzperson ist die am meisten untersuchten Variable für die Verteilung des expletiven Artikels. Zwei Projekte der jüngeren Zeit haben dafür Crowdsourcing-Erhebungen durchgeführt, für den deutschen und italienischen Kolloquialstandard: Die auf der dritten Erhebungsrunde des Atlante della Lingua Italiana Quotidiana (ALIQUOT) beruhenden Karten zeigen klare Unterschiede in Bezug auf des Geschlecht der Person. Der expletive Artikel ist bei männliche Rufnamen (il Luca, l’Antonio, il Michele) im westlichen und alpinen Lombardisch belegt, sporadisch auch im östlichen Lombardisch, und im Untersuchungsgebiet von VinKo, also in Trentino-Südtirol und Venetien. Im Süden gibt es vereinzelte Belege im Salento (Apulien). Das Gebiet mit dem Artikel bei weiblichen Rufnamen (la Sara, la Martina, la Valentina) ist wesentlich größer und schließt den gesamten italo-romanischen Bereich im Norden, die Toskana und den Salento ein. Die Karten der neunten Runde des Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) zeigen eine zum Italienischen spiegelbildliche Situation, in der der expletive Artikel vor Rufnamen normalerweise in der südliche Hälfte des deutschen Sprachgebiets verwendet wird (etwa südlich der Linie Köln-Dresden). Die Karten des AdA sind nicht nach Geschlecht differenziert, aber entsprechend der von Alber und Rabanus (2011) postulierten Belebtheitsskala erwarten wir uns für das Deutsche eine höheren Anteil von expletiven Artikeln bei männlichen Rufnamen als bei weiblichen.

Die auf VinKo-Daten beruhenden Karten M und F bestätigen diese spiegelbildliche Situation mit den höchsten Anteilen an Konstruktionen mit expletivem Artikel ganz im Süden des deutschen und ganz im Norden des italienischen Sprachgebiets. In den Tiroler Dialekten ist der Artikel häufiger bei männlichen Rufnamen (auf einem insgesamt sehr hohen Niveau der Artikelverwendung: 95,08 % für das männliche, 80 % für das weibliche Geschlecht), während in Venetien der Artikel häufiger bei weiblichen Rufnamen auftritt (14 % für das männliche, 41,43 % für das weibliche Geschlecht). Die Unterschiede sind statistisch signifikant. Im trentinischen Übergangsgebiet sind die Unterschiede dagegen gering und nicht statistisch signifikant, der Anteil der Artikelverwendung ist hoch (72,26 % für das männliche, 75,71 % für das weibliche Geschlecht). In den historisch deutschen Minderheitensprachen Fersentalerisch, Zimbrisch und Zahrerisch wird der expletive Artikel praktisch immer verwendet, im Ladinische dagegen nur sehr selten. Dessen ungeachtet zeigt die Karte 138 des Sprachatlas des Dolomitenladinischen und angrenzender Dialekte (ALD-II), „Barbara … / Giacomo …“, eine häufigere Verwendung des expletiven Artikels bei den weiblichen als bei den männlichen Rufnamen.

Das überraschendste Ergebnis ist der geringe Anteil des expletiven Artikels vor weiblichen Rufnamen in Venetien, der von der Literatur im Prinzip als obligatorisch betrachtet wird. In seiner Grammatik des veronesischen Dialekts schreibt Bonfante (2018), dass die „weiblichen Rufnamen immer vom Artikel begleitet werden“. In der Karte F zeigt sich beim Artikel bei weiblichen Rufnamen dagegen starke Variation. Dieses Ergebnis könnte als methodisch bedingtes Artefakt erscheinen, also als Effekt der Übersetzungsaufgabe, die von den Informanten autonom auf der VinKo-Plattform erledigt wird. Der Stimulussatz, der auf Standarddeutsch oder Standarditalienisch in der Regel ohne Artikel dargeboten wird, könnte die Informanten verleiten, in ihren Dialektübersetzungen die artikellose Konstruktion zu replizieren bzw., allgemeiner gesagt, Sätze zu produzieren, denen auch andere Merkmale des Dialekts fehlen. Es ist ja richtig, dass beim Crowdsourcing die Figur des Explorators fehlt, der in der traditionellen Feldforschung die Informanten immer wieder daran erinnert, die gewünschte Zielvarietät zu produzieren (Dialekt) oder mit ihnen das Phänomen (Gebrauch des expletiven Artikels) sogar explizit bespricht. Es gibt aber gute Argumente, die Ergebnisse trotzdem als verlässlich zu betrachten. Das stärkste ist die Tatsache, dass die Übersetzungsaufgaben und die unnatürliche Crowdsourcing-Situation für alle Informanten identisch sind. Folglich könnte das Gesamtzahl der Konstruktionen mit Artikel durch die Situation reduziert werden, aber das müsste im gesamten Gebiet gleichermaßen passieren. Die Unterschiede, die wir zwischen den Orten in Bezug auf den Anteil von Konstruktionen mit und ohne Artikel sehen, müssen daher mit Merkmalen des spezifischen Dialekts verbunden sein, in dem der Artikel den Auswirkungen der Situation gegenüber mehr oder weniger resistent ist, und daher auch mehr oder weniger obligatorisch. Andernfalls wäre nicht erklärbar, warum der Anteil von Konstruktionen mit Artikel bei weiblichen Rufnamen, der von der Literatur als praktisch obligatorisch in allen italienischen Dialekten des VinKo-Untersuchungsgebiets eingeschätzt wird, hoch im Trentino und niedrig in Venetien ist. Auf der anderen Seite ist die Fakultativität des Artikels die Voraussetzung dafür, dass der Artikel soziale Nähe und Vertrautheit kodieren kann – Funktionen, die in einem System mit obligatorischem Artikel ausgeschlossen sind. Die Konnotation der Vertrautheit (zum Beispiel hypokoristisch-positiv oder, häufiger, hypokoristisch-pejorativ) und die Präferenz für die Verwendung in Bezug auf Männer oder Frauen hängen vermutlich von kulturspezifischen Faktoren ab.

Karte M: Rufnamen mit Artikel (rot) und ohne Artikel (hellblau) in den Übersetzungen der Sätze mit männliche Namen (Italienisch: Gianni, Marco, Carlo; Deutsch: Hans, Paul, Lukas, Johann, Markus, Franz, Karl, Martin). Die ladinischen Täler und die Orte mit fersentalerischer, zimbrischer und zahrerischer Sprache sind mit grauen Streifen unterlegt dargestellt.
Karte F: Rufnamen mit Artikel (rot) und ohne Artikel (hellblau) in den Übersetzungen der Sätze mit weiblichen Namen (Italienisch: Maria, Anna; Deutsch: Maria, Christine). Die ladinischen Täler und die Orte mit fersentalerischer, zimbrischer und zahrerischer Sprache sind mit grauen Streifen unterlegt dargestellt.

In den Karten repräsentieren die Tortendiagramme den Anteil der Konstruktionen mit Artikel (rot) und ohne Artikel (hellblau) pro Ortspunkt.

Literaturhinweise

  • Rabanus, Stefan (2023): Nome di battesimo e articolo espletivo – crowdsourcing e cartografica linguistica nello studio della variazione linguistica in Trentino-Alto Adige e Veneto. In: Robert Schöntag & Laura Linzmeier (Hrgs.): Neue Ansätze und Perspektiven zur sprachlichen Raumkonzeption und Geolinguistik. Fallstudien aus der Romania und der Germania. Lausanne: Lang, 93-134.
  • Rabanus, Stefan, Anne Kruijt, Marta Tagliani, Alessandra Tomaselli, Andrea Padovan, Birgit Alber, Patrizia Cordin, Roberto Zamparelli & Barbara Maria Vogt (2023): VinKo (Varieties in Contact) Corpus v1.2. Bozen: ERCC.