Die auf VinKo-Daten beruhenden Karten M und F bestätigen diese spiegelbildliche Situation mit den höchsten Anteilen an Konstruktionen mit expletivem Artikel ganz im Süden des deutschen und ganz im Norden des italienischen Sprachgebiets. In den Tiroler Dialekten ist der Artikel häufiger bei männlichen Rufnamen (auf einem insgesamt sehr hohen Niveau der Artikelverwendung: 95,08 % für das männliche, 80 % für das weibliche Geschlecht), während in Venetien der Artikel häufiger bei weiblichen Rufnamen auftritt (14 % für das männliche, 41,43 % für das weibliche Geschlecht). Die Unterschiede sind statistisch signifikant. Im trentinischen Übergangsgebiet sind die Unterschiede dagegen gering und nicht statistisch signifikant, der Anteil der Artikelverwendung ist hoch (72,26 % für das männliche, 75,71 % für das weibliche Geschlecht). In den historisch deutschen Minderheitensprachen Fersentalerisch, Zimbrisch und Zahrerisch wird der expletive Artikel praktisch immer verwendet, im Ladinische dagegen nur sehr selten. Dessen ungeachtet zeigt die Karte 138 des Sprachatlas des Dolomitenladinischen und angrenzender Dialekte (ALD-II), „Barbara … / Giacomo …“, eine häufigere Verwendung des expletiven Artikels bei den weiblichen als bei den männlichen Rufnamen.
Das überraschendste Ergebnis ist der geringe Anteil des expletiven Artikels vor weiblichen Rufnamen in Venetien, der von der Literatur im Prinzip als obligatorisch betrachtet wird. In seiner Grammatik des veronesischen Dialekts schreibt Bonfante (2018), dass die „weiblichen Rufnamen immer vom Artikel begleitet werden“. In der Karte F zeigt sich beim Artikel bei weiblichen Rufnamen dagegen starke Variation. Dieses Ergebnis könnte als methodisch bedingtes Artefakt erscheinen, also als Effekt der Übersetzungsaufgabe, die von den Informanten autonom auf der VinKo-Plattform erledigt wird. Der Stimulussatz, der auf Standarddeutsch oder Standarditalienisch in der Regel ohne Artikel dargeboten wird, könnte die Informanten verleiten, in ihren Dialektübersetzungen die artikellose Konstruktion zu replizieren bzw., allgemeiner gesagt, Sätze zu produzieren, denen auch andere Merkmale des Dialekts fehlen. Es ist ja richtig, dass beim Crowdsourcing die Figur des Explorators fehlt, der in der traditionellen Feldforschung die Informanten immer wieder daran erinnert, die gewünschte Zielvarietät zu produzieren (Dialekt) oder mit ihnen das Phänomen (Gebrauch des expletiven Artikels) sogar explizit bespricht. Es gibt aber gute Argumente, die Ergebnisse trotzdem als verlässlich zu betrachten. Das stärkste ist die Tatsache, dass die Übersetzungsaufgaben und die unnatürliche Crowdsourcing-Situation für alle Informanten identisch sind. Folglich könnte das Gesamtzahl der Konstruktionen mit Artikel durch die Situation reduziert werden, aber das müsste im gesamten Gebiet gleichermaßen passieren. Die Unterschiede, die wir zwischen den Orten in Bezug auf den Anteil von Konstruktionen mit und ohne Artikel sehen, müssen daher mit Merkmalen des spezifischen Dialekts verbunden sein, in dem der Artikel den Auswirkungen der Situation gegenüber mehr oder weniger resistent ist, und daher auch mehr oder weniger obligatorisch. Andernfalls wäre nicht erklärbar, warum der Anteil von Konstruktionen mit Artikel bei weiblichen Rufnamen, der von der Literatur als praktisch obligatorisch in allen italienischen Dialekten des VinKo-Untersuchungsgebiets eingeschätzt wird, hoch im Trentino und niedrig in Venetien ist. Auf der anderen Seite ist die Fakultativität des Artikels die Voraussetzung dafür, dass der Artikel soziale Nähe und Vertrautheit kodieren kann – Funktionen, die in einem System mit obligatorischem Artikel ausgeschlossen sind. Die Konnotation der Vertrautheit (zum Beispiel hypokoristisch-positiv oder, häufiger, hypokoristisch-pejorativ) und die Präferenz für die Verwendung in Bezug auf Männer oder Frauen hängen vermutlich von kulturspezifischen Faktoren ab.